Progressive Muskelentspannung ist mehr als nur Entspannen!

Ein Kurs in Progressiver Muskelentspannung kann dich vor den mitunter üblen Nebenwirkungen der Pharmaprodukte schützen, aber auch vorhandene Krankheitssymptome lindern. Wie das zu erklären ist und welchen Entwicklungsweg dieses Entspannungsverfahren bereits genommen hat, erfährst du hier.

„Progressiv“ bedeutet „voranschreitend“ oder „stufenweise“. Klingt das nach Anstrengung? Ja, aber halt: Damit sind hier keine vielen Levels gemeint, die du erringen müsstest, bevor du entspannen kannst. Gemeint ist vielmehr, dass sich die Entspannung auf den verschiedenen Ebenen von Körper, Geist und Seele ausbreitet. Es geht nämlich um mehr, als nur entspannte Muskeln.

Inhaltsverzeichnis

Wie alles begann...

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©Bild von Microgen/shutterstock_1104844253 auf Alterix

Der amerikanische Arzt Edmund Jacobson (1885-1976) ging seit 1908 der Frage nach, wie ein nervöser Mensch dazu befähigt werden kann, zu entspannen. Ihm war bereits klar, dass ein seelisch angespannter Mensch auch muskulös angespannt ist und dass dieser Zustand viele gesundheitliche Probleme mit sich bringt und diese aufrechterhält.

Jacobsen praktizierte Yoga. Er wusste, dass über muskulöse Entspannung auch nervliche Entspannung hervorzurufen ist und dies jegliche Art der Genesung fördert. So feilte er etwa 20 Jahre lang an seinen selbst entwickelten Übungsfolgen, die körperliche Anspannungen effektiv auflösen sollten. Schließlich veröffentlichte er sein erstes Buch und nannte es „Progressive Muskelentspannung“. Es wandte sich zunächst an Ärzte. Auf Nachfrage schrieb Jacobsen 1934 ein Buch für Laien mit dem Namen „You must relax“, das erst 1990 in deutscher Sprache erschien. Hier hatte es den sperrigen Titel „Entspannung als Therapie – Progressive Relaxation in Theorie und Praxis“. Sein ursprüngliches Verfahren erwies sich im Laufe der Zeit aber als zu zeitaufwendig sowie unübersichtlich und so wurde es methodisch vereinfacht und abgerundet. Heute hat sich fast ausschließlich die vereinfachte Version durchgesetzt.

Die Idee dahinter

Die Grundprinzipien der Progressiven Muskelentspannung (PME) sind dieselben wie im Yoga; nämlich die Prinzipien von Rhythmus und Polarität:

  • Einer Anspannung folgt eine Entspannung, wie der Anspannung des Tages die Erholung in der Nacht.
  • Die dafür verantwortlichen Teile des vegetativen Nervensystems Sympathikus und Parasympathikus werden gleichermaßen, aber im Wechsel, angesprochen.
  • Der wiederholte Wechsel von aktiven und passiven Phasen ermöglicht dem gesamten Körper-Geist-System, in Balance und Harmonie zu kommen.

Im Yoga wie in der Progressiven Muskelentspannung folgt also einer kurzzeitigen und kräftigen Anspannungsphase eine bewusste Entspannungsphase. Im Yoga besteht die Anspannungsphase aus dem Halten der Asanas (Körperpositionen, die mit Beanspruchung bestimmter Muskeln und Bänder einhergehen). In der PME spannt man in dieser Phase bestimmte Muskelgruppen an.

Eigentlich also eine ganz natürliche, da rhythmische, Sache. Warum aber sind dann so viele Menschen verspannt und nicht ihrer Kraft?

Einfach deshalb, weil der angespannte Zustand von Muskeln und Psyche als normal empfunden wird. Weil er schon sehr lange so ist. Oft schon seit der Kindheit. Deshalb kommen wir nicht einmal auf die Idee, bewusst zu entspannen.

Daher muss der erste Schritt sein, in sich hinein zu spüren und wahrzunehmen, wie die Muskelspannung gerade ist. Auch zu Beginn eines PME-Trainings liegt der Fokus idealerweise darauf, in sich hinein zu spüren: In die Empfindungen beim Anspannen und beim darauffolgenden Loslassen.

Entwicklung auf vier Ebenen

Jacobson wies durch umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen an der Harvard University nach, dass…

  1. …sich Stress in muskulösen Verspannungen äußert.
  2. …Stress seelische oder körperliche Krankheiten auslöst.
  3. …die Einwirkung auf den Muskeltonus die Aktivität des Sympathikus herabsetzt.
  4. …die Entspannungsreaktion ein einfaches und natürliches Heilmittel bei psychosomatischen Störungen ist und zur Gesunderhaltung entscheidend beiträgt.
Auf physischer Ebene Auf emotionaler/seelischer Ebene Auf geistiger/gedanklicher Ebene
Muskeltonus sinkt und Verspannungen lösen sich Innere Ruhe Erholsames Gewahrsein
Herz-Kreislauf-System reguliert runter und der Blutdruck sinkt Gefühl von Harmonie „Gedankenkarussell“ stoppt
Durchblutung der Hautgefäße, Extremitäten und Muskeln steigt Kraftvollere Präsenz Konzentration wird besser
Atem fließt ruhiger    
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PME zwischen damals und heute

Heute gilt es als wissenschaftlich anerkannt, dass ein großer Anteil existierender Erkrankungen auf fehlende Entspannung und Dauerstress zurückzuführen ist.

Jacobsons ursprünglich beschriebene Entspannungsmethode umfasst eine große Anzahl an Muskelgruppen. Man brauchte lange, um sie alle zu üben. Der PME-Praktizierende und Psychotherapeut Joseph Wolpe wies etwas später nach, dass ein zusammenfassendes und zeitlich reduziertes Vorgehen ebenso wirksam war. Wolpe, ein Südafrikaner, übte mit seinen Patienten in einem Rahmen von fünf bis sieben Sitzungen und beanspruchte weniger Muskelgruppen. Dafür ließ er seine Patienten die Anspannung intensivieren.

Die heute gängige verkürzte Version ist überwiegend auf die Bearbeitung von Bernstein & Borkovec in den 70er Jahren zurückzuführen. Seitdem ist die PME von ursprünglich 30 auf nun 16 Muskelgruppen ausgerichtet. Dabei betragen die Anspannungs- und Entspannungsphasen heute jeweils 5-7 und 45-60 Sekunden.

In Studien ist die Effizienz der PME mehrfach bestätigt worden. 1994 beschreiben Grawe et al. 66 kontrollierte Studien und leiteten daraus ein breites Anwendungsspektrum ab. Am effektivsten sehen sie den Einsatz der PME als integralen Bestandteil multimodaler Therapien, etwa in psychosomatischen Kliniken und Rehas. Am wirkungsvollsten hat sie sich in diesem Rahmen bei Angststörungen und psychosomatischen Erkrankungen (wie Hypertonie und chronischen Schmerzen) erwiesen, die auf Stress basieren und oft Schlafstörungen mit sich bringen.

Außerdem hat sich gezeigt, dass die PME die Regeneration bei medizinischen und anderweitigen Behandlungen beschleunigen und verbessern kann.

PME - Praxis für Kinder und Ältere

Für Kinder und Senioren mit leichter Demenz empfiehlt es sich, die Progressive Muskelentspannung mit einer Fantasiereise zu verbinden. Wem Backen gefällt, wird die folgende kombinierte Entspannungssitzung mögen. Das Thema ist variabel und lässt sich zu Hause, in Kindergärten oder in Seniorenheimen anwenden.

Besuch in der Bäckerei

Leg dich auf den Rücken und lass deine Hände locker neben dir ruhen. Schließ deine Augen und atme entspannt ein und aus, ein und aus, ein und aus…

Du machst dich auf den Weg in eine Bäckerei und gehst nun durch eine lange, von Bäumen gesäumte Allee. Eine freundliche Bäckerin öffnet dir die Tür und strahlt dich an. Du bist ein bisschen aufgeregt und so versuchst du erst einmal, den Boden unter deinen Füßen zu spüren:

  • Krümme deine Zehen und zieh sie ganz fest zu dir heran.
  • Lass wieder locker und tu es jetzt noch einmal. Krümme deine Zehen.
  • Lass sie wieder los und schüttle deine Beine aus.
  • Lass sie ruhig wieder auf dem Boden ruhen und spüre, wie die Anspannung wegfliegt.

Nun bittet sie dich, durch eine enge Tür in den Backraum zu kommen. Du musst dich dazu ganz schlank machen.

  • Zieh deinen Bauch ganz fest ein. Spann ihn an und mach dich dünn. Atme dabei weiter ruhig ein und aus, ein und aus, ein und aus…
  • Lass jetzt den Bauch wieder weich werden. Noch ein kleines Stück, dann bist du durch die Tür durch.
  • Also noch einmal: Zieh deinen Bauch ein. Halte… und lass locker.

Jetzt stehst du vor dem Brotteig. Um ihn herum stehen allerlei benutzte Schüsseln – ungespült! Wie sollst du hier backen?

  • Spanne dein Gesicht an und mache eine Grimasse, denn du bist verärgert.
  • Lockere dein Gesicht wieder.

„Wer hat bloß dieses Chaos hinterlassen?“, fragst du dich.

  • Dabei ziehst du deine Augenbrauen nach oben und runzelst die Stirn. Es bilden sich viele kleine Falten auf deiner Stirn.
  • Lockere dein Gesicht wieder.
  • Spüre die Entspannung und atme ruhig weiter.

Die nette Bäckersfrau entschuldigt sich dafür und führt dich in den Nachbarraum. Du beginnst nun, den Teig zu kneten und viele schöne Dinge damit zu formen.

  • Ziehe deine Mundwinkel nach oben, als ob du lächeln würdest. Halte deine Mundwinkel oben     und lächle weiter…
  • Lass nun wieder los und entspanne den Mund. Du spürst, wie sich dein Gesicht wieder entspannt und warm wird. Du atmest ein und aus.

Der Teigklumpen und die Teigfiguren sollen nun in Kästen, um sie in den Nebenraum zu tragen. Schwer sind die Kästen!

  • Beuge einen Arm und zeig deine Oberarmmuskeln. Spanne sie fest an.
  • Lass nun wieder locker. Atme weiter ein und wieder aus.
  • Beuge jetzt den anderen Arm und spanne deine Muskeln an.
  • Lass locker und lege den Arm wieder neben dich ab.

Um die schweren Kästen zu transportieren, brauchst du natürlich beide Arme.

  • Beuge nun beide Arme und spanne deine Muskeln in den Armen an. Atme dabei ruhig weiter.
  • Entspanne jetzt und schüttle die Arme leicht aus. Lege sie wieder neben dich auf den Boden. Du spürst, wie etwas Warmes ins Fließen kommt.

Du gehst mit den vollen Kästen in den Backraum. Kurz vor dem Ofen siehst du noch einen ungeformten Teigklumpen, greifst danach und knetest ihn. Er muss noch gepresst werden.

  • Balle eine Hand zur Faust und drücke den Teig darin fest zusammen.
  • Lass dann los und strecke deine Finger aus. Schüttle deine Hand aus und leg sie neben dich hin. Spüre die Wärme in der Hand.
  • Dann mit der anderen Hand. Faust ball, halten und loslassen. Hand ausschütteln und ablegen. Spüre die Wärme in dieser Hand.

Deine Brote sind allesamt bereit für den Ofen. Da steigt dir der Duft frisch gebackenen Brotes in die Nase.

  • Leg deine Nase in Falten und ziehe sie in Richtung Stirn.
  • Lass wieder locker und entspanne die Nase. Atme ruhig ein und aus und genieße dabei den Duft frisch gebackenen Brotes.

Du hast es geschafft. Dein Brot ist im Ofen. Du schaust aus dem Fenster und siehst einen mächtigen Baum. Da wünschst du dir plötzlich, einmal so stark und so ruhig wie dieser Baum zu sein.

  • Spanne deinen ganzen Körper an. Sei für einen Moment fest wie der Baum. Dein ganzer Körper ist angespannt. Vergiss nicht, zu atmen…
  • Lass wieder los und spüre, wie Wärme deinen ganzen Körper durchfließt.

Deine Brote backen. Zufrieden gehst du ins Freie. Komm nun langsam in diesen Raum zurück und strecke dich. Strecke Arme und Beine… und öffne die Augen, wenn es für dich an der Zeit ist.

PME funktioniert einfach

Wer seine Muskeln anspannt, presst Blut aus den Gefäßen heraus. Beim anschließenden Loslassen weiten sich die Gefäße umso mehr, wodurch sie stärker durchblutet werden. Wenn sich die Gefäße weiten, passiert noch etwas: Die Adrenalinproduktion wird heruntergefahren. Das wird unterschiedlich wahrgenommen. Für manche Menschen fühlt sich Entspannung nach Bodenhaftung an, für andere nach Wärme oder Wohlsein.

Erwiesenermaßen hilft die Progressive Muskelentspannung auch bei Herz-/Kreislauf-Erkrankungen und bei Schlafstörungen sowie in der begleitenden Behandlung von Krebspatienten.

Wissenschaftliche Bewertungen der PME

Schwerpunkt Rückenschmerzen

Rohrmann et al. (2001) untersuchten die Wirksamkeit der PME bei insgesamt 60 Menschen. 20 hatten Rückenschmerzen und eine Bandscheiben-OP hinter sich, 20 hatten Multiple Sklerose und 20 waren gesund. Vor und nach den PME-Sitzungen wurde die sIgA-Konzentration im Speichel gemessen. (Der sIgA-Antikörper wird u. a zur Immunabwehr benötigt.) Auch wurde jeweils nach dem Gefühl von Entspannung oder Anspannung gefragt.

Bei den MS-Patienten und den Gesunden trat ein signifikanter Anstieg von sIgA auf, bei den Rückenschmerzpatienten nicht. Jedoch berichteten alle drei Gruppen von deutlich spürbaren Entspannungsgefühlen.

Demnach ist die Steigerung der Antikörper zur Immunabwehr auch von der Art der Erkrankung abhängig.

Schwerpunkt Schlafstörungen

In Bezug auf Schlafstörungen entwickelte und überprüfte Paterok im Jahre 1993 ein spezifisches multifaktorielles Gruppentherapieprogramm. Das Programm umfasste neben der Progressiven Muskelentspannung auch Schlaferziehung und Problemlösungsstrategien.

27 Patienten absolvierten das Programm über mehrere Wochen. Der Therapieerfolg wurde mittels Schlaftagebüchern und Messgeräten erfasst.

Die Ergebnisse wiesen deutliche, klinisch bedeutsame Veränderungen in der Schlafqualität aus. Insbesondere die Messungen dokumentierten ein deutlich schnelleres Einschlafen und längeres Durchschlafen. Die Patienten selbst berichteten, alle drei Bausteine des Behandlungsprogramms seien für sie wichtig gewesen.

Gesamtbewertung

Grawe et al. bezeichnen die PME als „eine vergleichsweise sehr gut untersuchte Therapiemethode“. Insgesamt seien Wirksamkeits-Studien mit insgesamt 3254 Patienten durchgeführt worden. Die methodische Qualität der Studien sei „etwas über dem Durchschnitt“, die Effektmessung allerdings eher „schmal angelegt“ gewesen. Das heißt: Es wurden nur die Veränderungen der Hauptsymptomatik beobachtet. Knapp 75 Prozent der Patienten hätten bedeutsame Verbesserungen ihrer Symptome und ihrer vegetativen Stabilität erfahren.

Fazit

Die zahlreichen Forschungsergebnisse sprechen für die hohe Wirksamkeit der Progressiven Muskelentspannung. Sie ist in der psychologischen Schmerztherapie ebenso wirksam wie bei Herzkreislauferkrankungen, Schlafstörungen und Problemen des Verdauungstraktes. Selbst für Krebspatienten ist sie hilfreich. In den meisten Bereichen sind die Ergebnisse dann am besten, wenn PME in Kombination mit anderen Maßnahmen angewendet wird. Wer sich aber all jene Symptome möglichst lang vom Hals halten will, nutzt PME-Angebote schon präventiv in jüngeren Jahren – oder sorgt anderweitig für tägliche Entspannung im eigenen Leben.

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