Autismus
Martin ist sechs Jahre alt. Er spricht nicht. Wenn seine Mutter ihm den Pudding mit dem blauen Löffel serviert, schreit er eine halbe Stunde am Stück. Legt sie den roten Löffel neben den Nachtisch, isst er begierig alles auf. Martin hat keine Freunde. Andere Kinder machen ihm Angst, weil sie laut sind und für ihn unvorhersehbar reagieren. Dafür beschäftigt er sich stundenlang mit seinen Legofiguren. Stört ihn dabei jemand, bricht seine Welt erneut zusammen und er schreit und schlägt um sich. Martin ist Autist.
Es ist unmöglich, „DEN Autisten“ zu beschreiben. Die Geschichte von Martin ist eine mögliche Version des Autismus. Vielleicht kennst du den biografischen Film „Du gehst nicht allein“. Hier wird der Lebenslauf der Autistin Mary Temple Grandin beschrieben, die einen besonderen Sinn für Rinder hat. Heute ist sie trotz ihres Autismus Dozentin für Tierwissenschaften und betreibt ihre eigene Firma. Oder kennst du die Serie „Big Bang Theory“. Hier soll Sheldon Cooper einen Autisten mimen. Mit seiner Hochbegabung in der Physik ist er allerdings eine Ausnahme unter Autisten. Seine Unfähigkeit, soziale Regeln zu verstehen, ist hingegen typisch.
Inhaltsverzeichnis
Ein Leben in der eigenen Welt
Menschen kommen als Autisten auf die Welt. Die Störung weist deutliche genetische Komponenten auf, wobei die genauen Ursachen noch erforscht werden. Auffällig werden autistische Kinder meistens in ihren ersten drei Lebensjahren. Einige von ihnen sind im Erwachsenenalter zur Selbstständigkeit fähig. Viele brauchen allerdings ihr Leben lang Betreuung. Aufgrund der großen Spannweite im Bezug auf die Schwere der Störung spricht man auch vom „autistischen Spektrum“. Gemein ist dabei allen Betroffenen, dass sie gleichbleibende Strukturen und Abläufe bevorzugen. Veränderungen sind unerwünscht bis bedrohlich.
In der Psychologie werden beim Autismus die folgenden drei Symptombereiche unterschieden:
Probleme in der sozialen Interaktion
Autisten haben große Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Sie verstehen ihr Gegenüber schlecht, da sie Mimik und Gestik nicht interpretieren können. Für sie ist es dasselbe, ob jemand weint oder lacht. Nur mit viel Übung und nach langer Therapie können manche von ihnen lernen, die Gefühlswelt ihrer Mitmenschen zu „lesen“.
Dementsprechend fällt es Autisten schwer, Beziehungen aufzubauen. Sie ziehen es in der Regel vor, alleine zu sein. Es ist ihnen nicht möglich, eigene Gefühle oder Interessen zu kommunizieren. Diese Isolation zu durchbrechen ist mit die größte Schwierigkeit für die Bezugspersonen von Autisten.
Probleme beim Gespräche führen
Typisch für autistische Kinder ist, dass sie spät und dann eher schlecht sprechen lernen. Die Hälfte aller Betroffenen lernt nie zu sprechen. Dann müssen andere Wege der Kommunikation ausgeschöpft werden. Lernen Autisten sprechen, wirken sie im Gespräch oft steif. Ihre Wörter wie auch ihre nonverbalen Signale passen nicht zu dem, was ihr Gegenüber von ihnen erwartet. Viele Autisten lernen nur phrasenhaft zu sprechen oder verwenden denselben Ausdruck in den verschiedensten Kontexten. Es kann zum Beispiel passieren, dass ein Autist immer „will Eis“ sagt, wenn er zustimmen möchte.
Bizarr anmutende Interessen oder Verhaltensweisen
Autisten leben in einer eigenen Ordnung. Sie sind akribisch darauf versessen, bestimmte Rituale immer und immer wieder zu durchlaufen. Das gibt ihnen Sicherheit in einer chaotisch anmutenden Welt. Daher halten sie geradezu panisch an Gewohnheiten fest, auch wenn diese völlig unpassend, aufwendig oder störend sind. Sie müssen zum Beispiel eine Treppe immer nach demselben Muster betreten. Strukturen und Details sind Autisten wichtig. Sie können sich stundenlang mit einem Objekt, Teilen oder Funktionen davon beschäftigen, beispielsweise dem Öffnen und Schließen von Schraubverschlüssen. Ein Grund für solches Verhalten ist die rasche Überforderung. Die Wahrnehmung von Autisten ist hochsensibel. Sie nehmen selbst völlig irrelevante Informationen auf. Wenn Sie beispielsweise das Wohnzimmer betreten, merken sie, dass das Sofakissen 10 cm weiter rechts liegt als sonst.
Die Extreme im autistischen Spektrum
Wie bereits erwähnt, gibt es nicht den einen Prototypen von Autisten. Die Kommunikationsfähigkeit der Betroffenen kann von kaum vorhanden bis nahezu unauffällig variieren. Auf intellektueller Ebene gelten die meisten Autisten als geistig behindert. Es ist jedoch so, dass bei autistischen Personen bestimmte Bereiche der Intelligenz besser ausgeprägt sind als andere. Ihre guten Leistungen in Bereichen wie Mathematik oder Gedächtnis unterscheiden sie ganz wesentlich von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Manche Autisten verfügen sogar über bemerkenswerte Inselbegabungen.
„AutisticSavants“ sind Autisten mit einer außerordentlichen Begabung. Diese kann im Bereich der Mathematik, der Kunst, der Musik, der Sprachen oder auch der Gedächtnisleistungen liegen. Von diesen herausragenden Köpfen soll es derzeit allerdings nur um die 100 weltweit geben. Sie können zum Beispiel 12.000 Bücher auswendig aufsagen oder sprechen über 50 Sprachen fließend.
Auch das Asperger-Syndrom ist eine Störung aus dem autistischen Spektrum. Typisch für Betroffene ist allerdings, dass bei ihnen die Sprache normal entwickelt ist. Außerdem erzielen sie beim Intelligenztest Werte im Normalbereich. Trotzdem sind sie in ihrer Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, gestört und zeigen stereotype Verhaltensweisen.
Früher Norm, heute Autist?
Autisten gibt es in allen Altersklassen. Sieht man sich die Zahlen an, scheint es über die letzten Jahrzehnte insgesamt immer mehr autistische Menschen zu geben. So wurde die Diagnose in den 60er-Jahren nur bei 2 bis 5 von 10.000 Personen gestellt. Heute trifft sie auf 116 von 10.000 Menschen zu. Das sind 1,16 %. Die zunehmenden Fallzahlen sind paradoxerweise nicht auf ein häufigeres Vorkommen der Störung zurückzuführen. Vielmehr wird die Diagnose heute häufiger gestellt als vor ein paar Jahrzehnten. Das liegt einerseits an einer besseren Aufklärung über die Erkrankung. Andererseits haben sich die Diagnosekriterien so verändert, dass sie heute mehr Personen miteinschließen. Männer sind übrigens vier Mal so häufig von Autismus betroffen wie Frauen.
Therapien zur Alltagsbewältigung
Heutzutage wird die Diagnose „Autismus“ meist vor dem dritten Geburtstag gestellt. Dann sollte auch sofort die Therapie begonnen werden. Autismus ist zwar nicht heilbar, doch unterstützen insbesondere frühe Fördermaßnahmen den betroffenen Menschen in seiner Entwicklung. Die Erfolge einer Therapie hängen natürlich von der Schwere der Störung ab. Immerhin 5 bis 17 % der Autisten schaffen es, ihr Leben im Erwachsenenalter weitestgehend alleine zu bewältigen.
Im Umgang mit Autisten hat sich die Arbeit mit Bildern, Vorbildern und Belohnungen als äußerst effizient erwiesen. Die Eltern autistischer Kinder müssen allerdings die therapeutischen Maßnahmen in den Alltag des Kindes integrieren. Sie tragen damit eine große Verantwortung wie auch Belastung.
Umso wichtiger ist es, dass die Öffentlichkeit über die Eigenarten von Autisten aufgeklärt wird. Nichts ist für Eltern schlimmer als ein Schreianfall ihres autistischen Kindes in aller Öffentlichkeit, während die Umstehenden sich darüber auslassen, was bei der Erziehung alles schiefgegangen sei. Wegen des ablehnenden bis teilweise feindseligen Verhaltens von Unwissenden trauen sich manche Familien überhaupt nicht mehr mit ihrem Kind vor die Tür. Das ist ein fruchtbarer Zustand, der durch Aufklärung wie in Form dieses Artikels hier vermieden werden kann.
Fazit
Autisten sind außergewöhnliche Menschen. Ihre Eigenarten sind ebenso vielfältig wie überraschend. Manche zeigen lediglich Verhaltensauffälligkeiten und Probleme in sozialen Situationen. Andere können nicht sprechen, schotten sich nach außen völlig ab und werden ihr Leben lang nicht selbstständig. Die heutigen Diagnosekriterien für die tiefgreifende Entwicklungsstörung treffen ungefähr auf 1 von 100 Personen zu. Bei der Behandlung des Autismus geht es in erster Linie darum, Fähigkeiten zur Bewältigung des Alltags einzuüben. Familien mit autistischen Kindern leiden besonders unter der Stigmatisierung durch ihre Umwelt.
Zwillings- und Familienstudien weisen auf eine genetische Ursache von Autismus hin. Geschwister von Autisten werden 75 x häufiger autistisch als andere Kinder. Experten vermuten zudem Einflüsse aus der Umwelt. So stehen zum Beispiel bestimmte Lebensmittel unter Verdacht, Autismus zu fördern. Bislang konnte aber keine Theorie zur Entstehung von Autismus mit Sicherheit bestätigt werden. Früher wurde die Ursache außerdem im Verhalten der Eltern gesucht. Diese Annahme gilt mittlerweile als überholt.
Die Gruppe der Autisten ist äußerst heterogen. Es gibt ganz unterschiedliche Ausprägungsgrade der typischen Symptome. So spricht die Hälfte aller Autisten nicht. Die andere Hälfte weist unterschiedliche sprachliche Fähigkeiten vom Beherrschen ein paar schwer verständlicher Ausdrücke bis zum nahezu unauffälligen Sprachfluss auf. Wenn es dir also komisch vorkommt, wie eine Person spricht, ist das ein erstes Indiz. Ist dein Gegenüber autistisch, wird es dir außerdem mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ins Gesicht sehen. Mimik ist für Autisten eine Fremdsprache. Insgesamt tun sie sich mit sozialer Interaktion schwer. Sie erkennen die Gefühle ihrer Mitmenschen nicht und reagieren daher entsprechend wenig einfühlsam. Ein deutliches Anzeichen für Autismus kann außerdem das krampfhafte Festhalten an bestimmten Gegenständen und die akribische Beschäftigung mit Details sein.
Die Schwere der Beeinträchtigung variiert zwischen verschiedenen Autisten sehr stark. Manche lernen schon früh das Sprechen, gehen zur Schule und versorgen sich als Erwachsene weitestgehend selbstständig. Andere bringen ihr Leben lang kein Wort über die Lippen, sind geistig behindert und in jederlei Hinsicht unfähig, mit ihrer Umwelt zu interagieren. In diesem „Spektrum“ bewegen sich alle Menschen, die die Diagnose „Autismus“ erhalten.
Die Antwort darauf, ob ein Autist unter seiner Störung leidet, ist schwer zu beantworten. Ein Autist, der diese Frage selbst beantworten konnte, sagte dazu: „Ich leide nicht unter dem Autismus. Ich leide darunter, dass die anderen keine Autisten sind.“ Diese Aussage drückt das Problem der Betroffenen sehr gut aus. Nicht-Autisten kommunizieren für sie auf einer Ebene, die sie nicht nachvollziehen können. Non-verbale Kommunikation, Empathie und Gefühle sind für sie Fremdsprachen. In ihrer eigenen Welt fühlen sie sich jedoch sehr wohl. Wenn sie ihre Ordnung pflegen sowie sich mit für sie interessanten Dingen beschäftigen dürfen und die Umwelt sich in bekannten Mustern verhält, ist alles in Ordnung. Ohne Hilfe kommen allerdings die Wenigsten in unserer komplexen Welt klar.
Eine Therapie kann für Autisten immer nur eine lindernde Maßnahme sein. Heilung ist weder durch Psychotherapie noch mittels Medikamenten möglich. Der Therapeut setzt an den Fähigkeiten an, die sein Patient mitbringt. Kann er nicht sprechen, sucht er einen anderen Weg der Kommunikation wie zum Beispiel über Bilder. Ziel ist es stets, die Beziehung zwischen der autistischen Person und ihrer Umwelt zu verbessern. Es werden Verhaltensweisen geübt, die den Alltag erleichtern. Manche Autisten müssen zum Beispiel von Grund auf lernen, ihr Bedürfnis nach Essen, Trinken oder bestimmten Gegenständen auszudrücken. Andere schaffen es im Laufe der Therapie sogar, die Gesichtsausdrücke ihrer Mitmenschen zu interpretieren. Da das Spektrum der autistischen Störung weit ist, fallen auch die einzelnen therapeutischen Maßnahmen sehr individuell aus.
Quellen & Zusatzmaterial
Davison, Neale und Hautzinger: Klinische Psychologie, 7. Auflage, Beltz PVU, Weinheim 2007.
https://autismus-kultur.de/autismus/autipedia/praevalenz-haeufigkeit.html
https://www.youtube.com/watch?v=Vxh69Q5mpdY
https://www.youtube.com/watch?v=t7ZFsVG8X10
Asperger Syndrom
Filmtipps: „Rain Man“, „Du gehst nicht allein“, „Ein unerwarteter Freund“
https://youtu.be/DI5baUAvHfE
Kommentar von Werner |
Vielen Dank für diesen Artikel, der viel Aufklärungsarbeit leistet. Mein Enkel wurde ins Autismus-Spektrum eingestuft. Ich habe schon von Anfang gemerkt, dass er anders ist als seine Geschwister. Die Diagnose war dann ein Schock und eine Erleichterung zugleich. Ich bin nach wie vor oft unsicher. Ich bin auf der Suche nach einer Selbsthilfegruppe für Angehörige. Gibt es Verbände oder ähnliches, die so etwas anbieten?