Der letzte große Lauf
Anstatt die Ampelphasen an Fußgängerübergängen, die fast 10 Sekunden dauern, noch zu verlängern, mögen die Senioren lieber „die physischen Voraussetzungen für sicheres Überqueren der Straßen trainieren“, so lautete die Aussage unseres Verkehrsministers. Das heißt, im Klartext: Ältere Menschen sollten Fitness betreiben, um schneller über die Straße zu kommen. Dass er mit diesem Satz einen regelrechten Fitnessboom ausgelöst hat, hätte er sich sicher selbst nicht träumen lassen. Ich bekam von meiner Redaktion den Auftrag, dem neu entstandenen Fitness Hype mal so richtig auf den Zahn zu fühlen, deshalb schickte man mich mit Mikrofon und Kammerermann direkt an die Front.
Adrenalinschübe en masse!
„Traffic light Junkies“, so lautet der Name einer, Adrenalin geschwängerten Oldie Laufgruppe im fortgeschrittenen Greisenalter. „Ich schaffe die Überquerung an dieser Fußgänger Ampel schon in unter 8 Sekunden“, keuchte einer von ihnen direkt in die Kamera, zwar kurz vorm Kollaps, aber mit hoch erhobener Faust. Neugierig stoßen drei Ü 80 er Damen im Jane Fonda Gedächtnis Outfit dazu. „Wir haben uns endlich von unseren grauen Kompressionsstrümpfen befreit“, rufen die kämpferischen Ladys und präsentieren überaus keck ihre selbst gestrickten, pinkfarbenen Stulpen zu den engsitzenden Aerobicanzügen. „Ich bin fick und fertig, aber dabei ist alles!“, stöhnt eine von ihnen, offensichtlich Asiatischer Herkunft, spontan in die Kamera. Sehr zur Freude der AltMännerriege, wie wir jetzt unschwer an ihren ausgebeulten Shorts erkennen können. Viagra ade, es lebe der Sport! Auf meine Frage, warum sie sich das noch antun, ertönt die Antwort wie im Chor: „Wir wollen doch fit sein für den letzten großen Lauf!“
Auch Eiweiß- und Vitamindrinks spielen eine Rolle
Als das Ampelmännchen auf grün springt, verabschieden wir uns schnell von der Gruppe, da auf der anderen Straßenseite ein Food Truck steht, den wir uns mal genauer anschauen wollen. Während meine jüngeren Kollegen leichtfüßig voraussprinten, erreiche ich nur mit Mühe und Not die rettende Bordsteinkante, bevor mir ein vorbeirasendes Auto den Arsch abfahren kann. Der Inhaber des Trucks erzählt, dass seine Geschäfte, dank Scheuers Fitnessidee, jetzt bombig laufen. „Was bieten Sie den alten Leuten denn so an?“, will ich wissen. „Nur gesunde Kost. Alles Bio, versteht sich und vegan. Dann Eiweiß- und Vitamindrinks. Selbstverständlich werden die Gerichte auf Wunsch auch püriert." Unsere nächste Station ist der nahegelegene Stadtpark. Hier werden neuerdings spezielle Kurse für sportinfizierte Senioren angeboten. Kling, klang, Schalentherapie, Gymnastik, Bodenturnen, Bodybuilding und Yoga mit und ohne Ziege. „He? Ziegen?“ „Ja die Ziegen helfen dabei uralte Blockaden aufzuspüren“, erklärt die völlig verpeilte Yogalehrerin.
Eine alte Dame äußert ihre Meinung
Leicht verwirrt machen wir uns auf den Weg zu meiner Oma, da die alte Dame ja auch zur Zielgruppe gehört und nicht weit weg wohnt. Meine Befürchtung, dass sie mich wieder für einen Enkeltrickbetrüger hält, bewahrheitet sich zum Glück nicht. Stattdessen überrascht sie uns mit einem gallegrünlichen Smoothie zur Begrüßung. „Trinkt Jungs! Und du Peter, ne Klaus, eh… Fritz? Du natürlich auch! Dieses Zeug bringt die grauen Gehirnzellen ordentlich auf Schwung!“ „Oma, ich heiße Benno!“ „Benno?“ „Ja, Benno!“ „Wie die Zeit doch vergeht. Gestern warst du noch so ein süßer, kleiner Hosenscheißer!“ Als meine Kollegen endlich ausgelacht haben, frage ich meine Oma, ob sie über die neue Fitnesswelle Bescheid weiß. Sie antwortet mir empört: „Na sag mal Fritz, denkst du vielleicht ich bin von vorgestern?“ Dann präsentiert sie uns voller Stolz ihren neuen Rollator. „Der ist jetzt frisiert, von 0 auf 100 in 8 Sekunden, damit bin ich für den Kampf an der Fußgängerampel bestens gerüstet“, sagt sie. Wir wären noch gerne geblieben, aber die Zeit drängt und wir haben noch einen Termin beim Verkehrsminister.
„Ich hätte ja nie damit gerechnet, dass mein Vorschlag so große Wellen schlägt“, sagt der Minister, während er seiner betagten Mutter liebevoll die Hand tätschelt. „Sie sind doch bestimmt stolz auf ihren Sohn?“, frage ich die alte entzückende Dame vor mir. Doch diese entzieht ihrem Sohn plötzlich die Hand und erwidert mir spöttisch: „Glaubt ihr jungen Leute den ernsthaft, dass ihr vor dem Älterwerden davonrennen könnt, nur weil ihr so respektlos damit umgeht?“
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