Wer bestimmt die künstlerlische Ausdrucksweise in der populären Musik?
Die Globalisierung zeigt uns die Bedeutung der englischen Sprache. 92 Prozent aller auf der Welt veröffentlichten Musikstücke mit interpretiertem Text (‚Gesang‘ wäre zu viel verlangt) sind in englischer Sprache gehalten. Auch viele europäische Länder, von denen sich die britischen Inseln stets zu distanzieren verstanden, haben die Zeichen der Zeit erkannt und sogar der Grand Prix de Eurovision de la Chanson wurde in Eurovision Song Contest umbenannt, weil die französische Sprache niemand versteht - auch deshalb, weil GPdEdlC als Abkürzung weniger taugt als ESC. Schließlich wird jeder Computerbesitzer auf seiner Tastatur daran erinnert.
Englische und deutsche Texte
Nun verstehen im Gegensatz zu unproportional wenigen nativen Sprecherinnen und Sprechern geschätzt zwei Milliarden Menschen englisch, das eine Reglementierung zwingend erforderlich macht. Im martialischen deutschen Sprachgebrauch wird es auch Zensur genannt.
Womit Rio Reiser schon im Vorfeld der Veröffentlichung seines Titels ‚König von Deutschland‘ konfrontiert war und seine Textzeile ‚Ronny (gemeint war Ronald Reagan, damaliger US-Präsident) bei Vivaldi vor die Türe scheißen‘ zu ‚…in die Waden beißen‘ änderte: obwohl die physische Auswirkung deutlich schmerzhafter wäre, gefiel den Sittenwächtern das Wort ‚scheißen‘ nicht. Etwas, womit Tic-Tac-Toe mit dem Titel ‚Ich find dich Scheiße‘ zehn Jahre später weniger zu kämpfen hatten, das vor allem daran lag, dass die zuhörende Person verunglimpft wurde und nicht eine satirische Anspielung auf eine dritte Person gemeint war.
Das verbale Verstehen von englischen Songtexten hingegen zwingt Künstler und Interpreten (oder eher deren Produzenten und Manager) konsequenterweise darüber nachzudenken, was sie der sozial distanzierten und politisch korrekten Gemeinschaft ihres Publikums präsentieren. Vor allem natürlich, wenn sie möchten, dass sie auch gehört und nicht indiziert und verboten werden. So besang Prince, als er noch einen Namen hatte, seine Titelfigur ‚Sexy Motherfucker‘ im Stück selbst als ‚You sexy mother- (pling, pling)’. Aber das ist Schnee von gestern. Die Liste der Bands, Gruppen und Solisten von heute ist nicht nur prominent, sondern allumfassend. Vielleicht außer einigen Schlagerbarden, deren Texte ohnehin nichts aus der lebenden Gesellschaft reflektieren und somit uninteressant zu hören geschweige denn zu überwachen wären, bleibt niemand verschont.
Skandal - oder englisch: scandal
Die entsprechenden Stellen in den Songs werden aber nicht mehr ausgepiept, sondern stumm oder instrumental übertönt, damit sich dem geneigten Zuhörer weder beabsichtigter Inhalt noch Rhythmus erschließen kann.
Am Beispiel einer jungen Künstlerin, die sich zur Demonstration ihres besonderen Anspruchs Benee nennt, und in ihrem Lied ‚Supalonely‘ die Refrainzeile ‚I’m a lonely bitch‘ mit ‚chick‘ enden lässt, um von Radiostationen gespielt zu werden, zeigt wie kraftvoll Zensur sich auf die Kreativität auswirkt.
Und während Doja Cat mit ihrer Provokation einen Hintern frei hat und man erst beim zweiten Mal ihre besungenen Körperteile nicht mehr vernehmen kann (es ist ein ‚t…‘ zu hören und den Rest muss man sich denken: ‚tits and ass’ - Anmerkung der Redaktion) genießt eine Ikone der Jugend alle Freiheit:
Ariana Grande schwebt wie ein guter Engel (englisch: bad bitch) über allem. Ihr Titel des gleichnamigen Albums ‚Thank U Next‘ von 2019 enthält die explizite, sich 56mal wiederholende klar verständliche Aussage: I’m so fucking grateful for my ex. Ob man es poetisch oder sachlich übersetzen möchte, es heißt nichts anderes als: Ich bin für meinen Ex so geschlechtsverkehrhabend dankbar.
Der fäkal-blasphemisch orientierte und nicht sexbetonte deutsche Übersetzer würde denken, dass es ’ich bin für meinen Ex so verdammt scheißen dankbar’ heißen müsste.
In der ersten Strophe zählt sie namentlich einige Eigenschaften früherer angeblicher Liebhaber auf. Das machen viele - wenn auch glaubhafter -, doch warum darf sie ein schmutziges Wort in den Mund nehmen, bei dem andere im Video sogar den Mund abgedeckt bekommen?
Belegt ist diese Unterschiedlichbehandlung (früher Diskriminierung genannt, aber das ist heute nicht mehr politisch korrekt und vor allem ein Fremdwort, das - ebenso wie französisch - niemand versteht) bei Demi Levato als Sängerin des Clean Bandit-Stücks ‚Solo‘: sie stellt in dem Titel, der von Selbstbefriedigung handelt, zu Beginn jeder Strophe klar: ‚I wanna fuck, but I’m broken hearted‘; doch das ist der Fantasie der Zuhörer überlassen (zu hören ist ‚I wanna (drei schnelle ‚wouh‘), but I’m broken hearted‘).
Im weiteren Verlauf wird Grace Chattos Gesicht mit einem bunten Qualmeffekt verdeckt, damit man abgelenkt ist und nicht beobachtet, wie sie mit der Hand zwischen ihren Beinen masturbiert ('I do it solo').
Demnächst werden die Texte komplett weggelassen, weil sie anstößig aufgefasst werden könnten, dafür aber die Bildsprache verstärkt und mit animierten Puppen (natürlich nicht mit realen Personen, das geht wegen der Kontaktverbote ohnehin nicht) gezeigt, was die Beschäftigung mit unserem Körper und Zwischenmenschlichkeit aus uns macht - pfui, darauf hätte man schon viel früher kommen können. Dann gibt es nur noch Instrumentalmusik und die Sprecher werden ebenfalls aus den Radios verbannt, jemand könnte ja 'live' ein falsches Wort sagen. Dann hätten wir den im Roman 'Fahrenheit 451' beschriebenen Zustand erreicht, der im gleichnamigen Truffaut-Film eine Zeitung zeigt, in der einzig Bilder zu sehen sind - und das wünschen wir uns doch alle.
Kommentare
Kommentar von Mariusfan |
Rio war nicht der Erste, der das böse sch-Wort nicht singen durfte. Denn nicht zu vergessen der Pfefferminzprinz 1978 von Marius:
Neger, die sind dunkel
Im Dunkeln läßt sich’s munkeln
An der Macht, da sind die Weißen
Darauf reimt sich sch-sch...
Und gemeint war:
Darauf kannst du scheißen ...
Heute ist das Wort Neger 'verpönt' und scheißen geduldet, solange niemand ange-sch...sprochen wird. Ist das besser?
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